|
In aller Bescheidenheit, aber vielleicht ist es ja bereits der 44. Tag oder wie viele Felder hat eigentlich ein Schachbrett?
Es ist der 44. Tag. Am 45. Tag würde die gesamte Oberfläche des Sees grün sein. Die schwimmende, phosphorliebende Alge hätte ihre maximale Ausbreitung erreicht und alle zur Verfügung stehende Fläche für ihr Leben genutzt. Ihre Bedeckung ließe keinen Lichtstrahl mehr in die unteren Wasserschichten dringen. Dunkelheit und Tod würden dort Einzug halten. Keine andere grüne Pflanze könnte mehr im Biotop überleben und ihren Sauerstoffabfall an die Tiere weitergeben. Der Wind würde das Wasser nicht mehr kräuseln und die Oberfläche in winzige Höhen und Täler verwandeln, welche mit jedem springenden Tropfen den Luftgasen eine größere Fläche anböten, sich zu lösen. Sicher, ein Wasserfall bringt mit seinem Gespritze mehr Sauerstoff in den See als der Wind. Aber jeder Faktor zählt, wenn die Tiere leben und atmen wollen. Der 45. Tag wäre ihr Tod.
Nur heute, am 44. Tag, heute sieht der See sehr schön aus. Morgens ging im Osten die Sonne auf und beleuchtete eine halb grüne und halb blaue Fläche. Eine leichte Brise wehte und trieb kleine Wellen vor sich her. Stießen sie auf die Ränder der Alge, nahmen Spritzer den Luftsauerstoff mit in die tieferen Schichten. Am Ufer schwammen kleine Fische im Schwarm, ihre Rücken veränderten nur leicht die Wasseroberfläche, erzeugten kleine Buckel auf ihr. Ab und zu sprang einer, da der Sauerstoff knapper wurde, schnappte er nach Luft, um die Schwimmblase, evolutiver Vorgänger der Lungen, zu füllen. Andere entkamen den am Morgen jagenden Räubern durch einen Sprung über die glitzernde Fläche. Ein räuberisches Flossendreieck durchstieß für einen kurzen Moment die Grenzschicht der Elemente. Alle Kleinen würden nicht entkommen, trotz der Gegenschattierung ihrer hellen Bäuche, die sie von unten gesehen fast unsichtbar macht, solange die Sonne auf den See scheint.
Wie nutzlos wäre die Gegenschattierung am 45. Tag. Dunkle Rücken schützen die Gejagten, wenn ein Räuber von oben sucht und helle Bäuche, solange er von unten schaut. Aber am 45. Tag wäre es oben dunkel. Kurios, lebensbedrohlich. Könnten die kleinen Verfolgten wohl auf dem Rücken schwimmen? Nun, diese Anpassung gelänge wohl eher, als die an den fehlenden Sauerstoff. Evolution, Anpassung und Überleben haben nun mal ihre Grenzen. Alles geht nicht.
Am 45. Tag wird das exponentielle Wachstum der Alge das Leben im See unter ihr unmöglich gemacht haben. Es gibt für die Selektion, das Überleben und sogar den Zufall grundlegende Bedingungen und marginale Erscheinungen, minimierende Faktoren und verändernde Impulse. Minimierende Faktoren und Grundlegendes begrenzen das Leben oder bringen sogar den Tod. Aus ist aus.
Und die Menschen?
Heute Abend am 44. Tag feiern wir am Seeufer. Unsere künstlichen Feuer und bengalisches Werk werden heller scheinen als der Mond. Unsere Sterne werden explodierend als glitzernder Schnee in den See tauchen. Phosphor zu Phosphaten des strahlendsten Weißes, was es je gab. Geile Party am Rande unberüherter Natur. Schließlich kennen wir unsere Grenzen. Berechnen genau, wie weit wir gehen können. Spielen seit Jahrtausenden Schach. Strategie, Zug um Zug, bis zum Schachmatt.
Barbara Pütz. September 2003
|